Nicht Kleider, Geschichten machen Leute.
(Alexander Lauber, Blog Stoffmuster)
Gute Frage(n)
Ich bin
im August 1962 geboren, in den ersten Jahren des Aufatmens nach der langen Nachkriegszeit, in Aktjubinsk, im Nord-Westen Kasachstans. In einer aufstrebenden Industriestadt am Fuße des Uralgebirges, das bekanntlich Europa und Asien trennt. Die Eltern: zwei ehemalige Nachbarskinder aus einer deutschen Kolonie direkt am Ufer des Schwarzen Meeres. Aufgewachsen: zwischen mehreren Kulturen, oben die offizielle sozialistische des Kindergartens und der Schule, mit auswendig gelernten Parolen, darunter, in unserer jungen Siedlung, ein Nebeneinander der sowjetischen „Brudervölker“, mit Menschen unterschiedlichster Nationalitäten, Ethnien, Überzeugungen und Stände; Russen, Kasachen, Griechen, Polen, Juden, Koreaner. Menschenmassen, die wie von einer übermächtigen Hand in diese einsame Gegend gesetzt wurden. Werden wir jemals erfahren, ob diese Hand einem Plan oder bloßer Willkür folgte?
Und inmitten all des Durcheinanders die dritte Kultur, der heimliche deutsche Kokon – daheim. Das, was zu Hause gesprochen und getan wurde, durfte nicht auf die Straße getragen werden, und die Dinge von der Straße am besten nicht ins Amt.
Parallelwelten. Mehrfach parallel.
Schon während meiner Geburt kam es zur ersten babylonischen Sprachverwirrung. Meine Mutter lag stundenlang in den Wehen und winselte immer wieder: „Oh Gott, oh Gott!“ Die russische Hebamme war zuerst irritiert, dann verärgert und sagte zu ihrer Kollegin auf Russisch: „So eine Verrückte! Andere Frauen schreien und fluchen oder rufen ‚Gospodi pomiluj, Herr erbarme dich!‘. Die hier quasselt die ganze Zeit von irgendeinem Kater.“ Die Kollegin nickte und äffte nach: „Oh kot, oh kot!“
„Kot“ ist das russische Wort für Kater.
Heute
Im Mai 1981 übersiedelte meine ganze Familie nach Deutschland. Es folgten Sprachkurs, Abitur, Studium der Wirtschaftsinformatik und 26 Jahre berufliches Engagement.
Ich bin verheiratet, habe zwei Töchter und drei Enkelkinder. Meine Familie, der Beruf und die Integration in die hiesige Gesellschaft beanspruchten mich so stark, dass mir die eigene Kindheit in einem fernen Land immer ferner und fremder wurde.
Mit knapp 50 Jahren entdeckte ich die Leidenschaft fürs Schreiben. Seitdem besuchte ich einige Kurse für autobiografisches Schreiben und kreative Literatur an den Volkshochschulen in meiner Umgebung sowie an der Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel.
Nun widme ich mich schreibend meiner Familiengeschichte, frage nach, halte fest, reise, recherchiere, lerne, denke. Und wundere mich selbst, was ich in meinen verschüttet geglaubten Erinnerungen so alles aufstöbere.
Ich bin Mitglied des Literaturkreises der Deutschen aus Russland e.V. und verschiedener Schreibgruppen. Seit
2019 leite ich die Schreibwerkstatt der VHS Augsburg-Land in Schwabmünchen. Schon als Kind merkte ich, dass ich selbst etwas am besten begriff, wenn ich es meinen jüngeren Geschwistern oder Mitschülern erklärte.
Dankbar glücklich
Wir sind es euch schuldig, glücklich zu sein. Jeden Gang am Morgen zu genießen, ob zur Zeitungsrolle unter dem Briefkasten oder zur Arbeit, jeden Motorstart und das Hupkonzert im Stau, die Stufen der Flugzeugtreppe und das Schwingen der Rotoren, die uns wieder fortbringen werden, in die Welt hinaus.
So wie sie uns weggebracht hatten in diese Welt. Die freie, offene, mit echten Chancen und neuen Freuden, mit neuen, bunten Farben – und weniger leuchtendem Rot. Auch wenn die Farben dann blasser wurden oder trüb, und Traurigkeit und Ohnmacht brachten, wenn die Treppenstufen manchmal zu steil wurden und die Höhe schwindelig machte, und auch wenn wir wankten. Im Nachhinein wissen wir: Das gehört dazu.
Wir sind es euch schuldig, es wenigstens anzuerkennen, auch wenn wir nicht oft Danke sagen, weil wir es verpassen im Taumel des Alltags, weil andere Dinge sich dazwischen schieben, den Blick vollstellen. Wir nehmen es an, ohne an Vergeltung zu denken, weil es adäquat zu vergelten eh nicht möglich wäre.
Kann man Lebensglück überhaupt vergelten?
Demut macht klein, sie ist schwierig zu erlernen. Aber glücklich sein? Glücklich im Wissen, wem man es zu verdanken hat?
Das geht!
Interviews
Mit der Zeitschrift "Volk auf dem Weg" der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, 01/2020:
Interview mit der Deutschen Allgemeinen Zeitung DAZ in Kasachstan, 01/2021:
„Für Kinder zu schreiben ist auf andere Weise schwierig“
An die Kindheit und Jugend, die sie in Kasachstan verbrachte, hat Ida Häusser die wärmsten Erinnerungen. In ihren Werken kehrt sie mitunter ganz bewusst dorthin zurück – taucht ein in die Vergangenheit, stellt sich Fragen, denkt über die Geschichte ihrer Familie nach.
„Schreiben ist ein Wunder und ein Unglück zugleich“, behauptet Judith Kuckart, deutsche Autorin und Regisseurin. Stimmen Sie damit überein? Und warum?
Oh ja. Manchmal hasse ich es, weil mir kein einziger Satz gefällt. Alles ist irgendwie abgedroschen, nichtssagend, langweilig. Manchmal gelingt ein Satz, dann könnte ich darin baden und jede Silbe genießen. Aber bis dahin ist es ein langer, langer Weg. Und der ist jedes Mal neu.
Warum fiel Ihre Entscheidung gerade auf die schriftstellerischen Tätigkeiten?
Zum literarischen Schreiben kam ich sehr spät, erst mit knapp 50 Jahren. Irgendetwas gärte in mir, wollte raus. Aber nicht einfach im Gespräch, zufällig am Kaffeetisch, sondern durchdacht. Das Schreiben setzt voraus, dass man seine Gedanken erst sortiert, bevor man zu erzählen beginnt.
In dem Buch „Meins!“ teilen Sie ihre Erinnerungen an ihre Kindheit, die Sie in Nordkasachstan verbracht haben. Was hat Sie dazu veranlasst, dieses Buch zu schreiben?
Die Erzählungen in „Meins!“ sind fast ausschließlich im VHS-Kurs „Autobiografisches Schreiben“ entstanden, als Hausaufgabe auf gestellte Fragen wie „Wenn ich ein Tier wäre, dann wäre ich…“ oder „Wie ich … lernte“. So entstanden „Manjka“ oder „Wie ich nähen lernte“. Die Erzählung „Meine drei Dinge“ entstand gleich am ersten Tag des Kurses, wir sollten in fünf Minuten anhand von drei Gegenständen beschreiben, was uns ausmacht. Natürlich habe ich auch noch lange danach an dem Text gefeilt, aber diese erste Aufgabe führte mich schon nach Kasachstan, denn da war mein erstes „ICH“ erwacht.
Welche Werte wurden Ihnen in Ihrer Kindheit vermittelt? Unterscheiden diese sich von den Werten der modernen Gesellschaft?
Verantwortung übernehmen, sich engagieren und sich eine eigene Meinung bilden waren wahrscheinlich die wichtigsten Eigenschaften. Und es ist auch heute so. Wer es weiter bringen möchte, im Beruf, im Sport, in der Kunst, der muss sich hineinknien.
Welche Qualitäten würden Sie gerne bei der heutigen Jugend sehen?
Ich sehe das alles auch bei der heutigen Jugend. Nur sind die jungen Leute durch die guten Lebensumstände nicht mehr gezwungen, es täglich zu beweisen, weil ja alles vorhanden ist.
Wo liegt Ihrer Meinung nach der Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern? Ist es schwieriger, Kinderbücher zu schreiben?
Für Kinder zu schreiben ist auf andere Weise schwierig. Ein langweiliger Satz reicht, und ihr Interesse ist dahin.
Kinder lesen heutzutage keine Bücher mehr. Was kann man dagegen tun?
Von klein auf vorlesen, jeden Tag, mehrmals am Tag. Gute Bücher kaufen, mit tollen Illustrationen, und diese gemeinsam betrachten, mit dem Kind auf dem Schoß. Und natürlich selber lesen. Da fällt mir ein Spruch von Oswald Bumke ein: „Erziehen heißt Vorleben. Alles andere ist höchstens Dressur.“
Wenn wir alle aus unseren eigenen Fehlern lernen, warum haben Menschen immer noch Angst, welche zu machen?
Weil Fehler weh tun. Und wir alle so gemacht sind, dass wir dem Leid aus dem Weg gehen.
Die Hauptbotschaft Ihrer Werke ist die Güte und Liebe zu den Menschen, zur Natur und zur Welt. Glauben Sie, dass diese wirklich dazu beitragen werden, die Welt zu verändern?
Verändern vielleicht nicht, zumindest nicht direkt. Aber es macht das Leben für einen selber sehr viel angenehmer, und wenn es jeder anstrebt, dann auch für andere.
Gibt es die ewige Liebe?
Ich hoffe, Ja.
Was ist das Verrückteste, das Sie jemals in Ihrem Leben getan haben?
Weiß ich auf die Schnelle nicht. Vielleicht diese Episode: Mein Mann und ich reisten 2012 auf den Spuren der Vorfahren mit dem Schiff bis zum Donaudelta und wollten von Galatz in Rumänien weiter nach Ismail und Odessa. Was wir nicht wussten: Über die (ganz dicht nebeneinander liegenden) Grenzen Rumänien – Moldawien – Ukraine verkehrten keine öffentlichen Busse, und zu Fuß durfte man nach Moldawien nicht „einreisen“. Wir fragten herum und fanden einen rumänischen Taxifahrer, der versprach, uns hinüberzubringen.
Aber etwa 100 Meter vor der Grenze setzte er uns aus. Er hatte gar keine Genehmigung zum Passieren der Grenze mit Passagieren. Er sagte aber etwas zu einem dort herumstehenden Polizisten, dieser nickte und winkte uns. Der Taxifahrer fuhr davon.
Wir standen mit unseren Koffern an einem Strommast an einer staubigen Straße, ganz alleine, 3.000 Kilometer von daheim, ohne ein schützendes Autodach über uns. Immer wieder fuhren Autos vorbei, die Fahrer schauten uns mit großen Augen an. Plötzlich hielt der Polizist ein Auto mit bulgarischem Kennzeichen an, sagte dem Fahrer etwas und zeigte auf uns. Dieser nickte, machte den Kofferraum auf und winkte uns zu sich. Wir verstauten unsere Koffer zwischen Melonen, Paprikasäcken und Zwiebelzöpfen, und stiegen hinten ein.
Dort saßen wir eingequetscht zwischen weiteren Wassermelonen und versuchten, uns mit dem Fahrer und seiner Frau auf Englisch zu unterhalten. Bis er nach einer halben Stunde fragte, warum wir nach Odessa wollten, und wir ihm die Geschichte der Spurensuche erzählten.
Es stellte sich heraus, dass Kostja und seine Frau Moldauer waren und wunderbar Russisch sprachen. Wir verbrachten zwei lustige Stunden an der Grenze, wartend im Auto. Den moldauischen Grenzpolizisten sagte Kostja, dass wir seine Verwandten seien, die aus Deutschland auf Besuch kommen. Diese glaubten ihm sicher nicht, sie hatten uns ja vorhin an dem Strommast gesehen. Aber Kostja blieb dabei und sagte uns: „Die warten, bis wir ihnen Geld geben. Aber sie kriegen keins!“ So war es auch. Irgendwann mal wurde es den Polizisten zu blöd, und sie ließen uns durch. Etwa 700 Meter weiter an der ukrainischen Grenze ließ Kostja uns aussteigen und sagte, dass man hier zu Fuß rüber darf. Diesmal stiegen wir lachend aus dem Auto.
Was ist Ihrer Meinung nach das größte Problem der Menschheit?
Die Selbstbezogenheit.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Marina Angaldt