Dichten lernt man durch regelmäßiges Lesen von Gedichten.

 (Galilei)

Als Kind las ich die Regale der Schulbibliothek leer, wahllos, was hat mich dabei so fasziniert? Die zur Sonne strahlenden sowjetischen Gutkinder, alle gleich, wie aufgereiht bei einem Morgenappell, unterschiedlich nur in ihrem Wetteifer? Ich weiß es nicht. Wenn ich als Teenager in der Stadtmitte für meine Eltern etwas besorgen musste, so gab ich das Wechselgeld immer für irgendein Buch aus, egal welches. Auch heute gehe ich am liebsten in Buchhandlungen shop­pen. Nur lese ich nicht mehr wahllos und auch nicht wie im Suff. Ich habe jetzt endlich Zeit. Ich unterstreiche gute Gedanken und notiere mir etwas dazu. Und dann gibt es da besondere Bücher, für die ich neuerdings Besprechungen verfasse:

Am 20. Mai 2021 zu 

Melitta L. Roth 

"Gesammelte Scherben", 

erschienen 2020 im ostbooks Verlag,

 ISBN 978 3 94 7270 101


 

Und hier geht es zum Blog von Melitta L. Roth: https://scherbensammeln.wordpress.com/ 




























„Aus der Stille kommt das Wort.“ So beginnt eine Geschichte aus Melitta L. Roths GESAMMELTE SCHERBEN. Ja, man muss sich Zeit nehmen, sie zu lesen, und die Stille um sich herum am besten mit dazu. Man muss sich auf die Textbruchstücke einlassen – und wird reich belohnt. Sie erzählen so viel.


Die Geschichten folgen keinem roten Faden. Es ist eine Collage aus Zufällig-Gefundenem und Streng-Gehütetem, aus Achtlos-Fallengelassenem und Mutwillig-Zertrümmertem, feines Porzellan aus der Familientruhe neben schwerem Steinzeug der Dorfleute – alles in tausend Öfen gebrannt. Eleganter Silberrand neben Unheilverheißungen, zarte Rosenranken auf rabenschwarzen Vorahnungen, Surreales mit Blümchenmuster neben dem allzu realen Schnurbart-Konterfei auf den Etiketten der zerschlagenen Wodka-Flaschen. Nichts passt zu einander und doch, und doch: Es ist Teil des Ganzen, des Trümmerfeldes der Russlanddeutschen Geschichte.

„Kintsugi“
heißt eine der literarischen Miniaturen, sie beschreibt die japanische Kunst, zerbrochene Teile beim Zusammensetzen mit Gold zu kitten. Schön wär's! Die russlanddeutschen Schicksale lassen sich nicht kitten, mit keinem Gold der Welt.
 
Man kann sich aber immer wieder Zeit und Stille nehmen und Melitta L. Roths Scherben neu begutachten, wie bei einer Ausgrabung – beim zweiten Lesen weiß man ja, welche Kanten scharf sind. Man kann immer wieder den Dreck wegpusten, wiegen, messen, überlegen, aus welchem Teil des Gesamten sie stammen könnten. Und sie dann neu zu einem Mosaik zusammenfügen, nach eigenem Geschmack auf Mörtel gesetzt. Bis alles an seinem Platz ist, bis alles einen Sinn hat. Ein wandfüllendes dreidimensionales Gemälde könnte es werden!